Thursday 1 April 2010

Kapitel 121 bis 133


Die Welt lebt durch Güte
Die indische Spruchweisheit des «Tirukkural»
Aus dem Tamil übersetzt von: Albrecht Frenz und K. Lalithambal

Kapitel 121. Klage über Erinnerungen
1201.       
Liebe ist süßer als Alkohol, da sie endlose Freude bringt - schon beim bloßen Drandenken.
1202.       
Kein Schmerz entsteht, wenn du an den Geliebten denkst - Liebe ist immer angenehm.
1203.       
Ist er dabei, über mich nachzudenken, tut es aber nicht, fühle ich mich wie beim Niesen, tue es aber nicht.
1204.       
Er ist immer in meinen Gedanken - bin ich auch in den seinen?
1205.       
Er schützt sich in seinem Herzen gegen mein Kommen - wird er nicht beschämt sein, immer in mein Herz kommen zu können?
1206.       
Ich lebe, weil ich an die Tage denke, an denen ich mit ihm lebte - wie könnte ich sonst leben?
1207.       
Ich kenne kein Vergessen; nur an ihn zu denken verbrennt mein Herz - was passierte, wenn ich ihn vergäße?
1208.       
Er wird nicht ärgerlich, wie sehr ich auch an ihn denke - ist dies nicht eine Ehre, die mir mein Geliebter antut?
1209.       
Denke ich zu viel an seine Grausamkeit, ist mein Leben vergeudet - einst sagte er, wir wären nicht verschieden.
1210.
Gruß dir, Mond, geh nicht unter, damit ich ihn mit meinen Augen sehen kann - den einen, der wegging und doch mein Herz nicht verließ.

Kapitel 122. Erzählen vom Traum

1211.       
Wie soll ich den Traum feiern, der mit der Botschaft meines Geliebten kam?

1212.       
Schliefen die fischgleichen bemalten Augen, so wie ich wünschte, erzählte ich meinem Geliebten im Traum mein tiefes Leid.

1213.       
Mein Leben geht nur weiter, weil ich in Träumen den sehe, der im Wachen keine Freundlichkeit zeigt.

1214.       
Im Traum liegt Freude, da er den sucht und bringt, den ich im Wachen vermisse.

1215.       
Einst war es schön, ihn im Wachen zu sehen – nun ist es ebenso schön, ihn im Traum zu sehen.

1216.       
Gäbe es kein Wachen - mein Geliebter ginge nie aus meinen Träumen.

1217.       
Der Grausame, der in wachen Stunden nicht kommt - warum quält er mich im Traum?

1218.       
Im Schlaf ruht er an meinen Schultern – erwache ich, eilt er in mein Herz.

1219.       
Sie tadeln den Geliebten, der nicht kommt - jene, die ihn nicht im Traum sehen.

1220.       
Die Leute des Ortes, die sagen, daß er mich im Wachen verlassen habe, sehen ihn nicht in meine Träume kommen.

Kapitel 123. Klage am Abend

1221.       
Sei gesegnet, Abend! Bist du ein Abend? Nein – di bist ein Speer, der das Leben der Verheirateten tötet.

1222.       
Sei gesegnet, dunkler Abend! Du mit den trüben Augen - ist dein Gefährte auch so grausam wie meiner?

1223.       
Der Abend, der mit Zittern und Trübheit einsetzte bringt mir eine Abneigung und wachsenden Schmerz.

1224.       
In Abwesenheit meines Geliebten kommt der Abend gleich den Schlachtern zum Schlachtgrund.

1225.       
Was habe ich dem Morgen Gutes getan - was den Abend Schlechtes?

1226.       
Als mich mein Mann noch nicht verlassen hatte, kannte ich die schmerzliche Natur des Abends noch nicht.

1227.       
Mein Schmerz ist eine Knospe am Morgen, springi den ganzen Tag über auf und blüht am Abend.

1228.       
Des Schäfers Flöte ist ein Vorbote für den feuergleichen Abend und wird zur Waffe, die mich tötet.

1229.       
Wenn der Abend sich verbreitet und den Geist verwirrt, wird alles an diesem Ort verwirrt und leidet Pein.

1230.       
Mein unausgelöschtes Leben ist nun an diesem befremdlichen Abend verloren - es denkt an den, der wegging, um Reichtum zu suchen.

Kapitel 124. Verlust der Schönheit der Glieder

1231.       
Nach dem Weinen um den, der dich in schmerzvoller Pein verließ, scheuen sich die Augen vor der blühenden Blume.

1232.       
Die fahlen und tränenvollen Augen scheuen sich, die Unfreundlichkeit des Geliebten zu verraten.

1233.       
Die Schultern, die am Tag der Vereinigung schwollen, scheinen öffentlich von seiner Trennung zu sprechen.

1234.       
Ihre goldenen Armreifen rutschen herunter, die Schultern haben ihre frühere Schönheit verloren und sind weniger geworden in Abwesenheit des Geliebten.

1235.       
Die Schultern, die ihre frühere Schönheit verloren haben, und die lockeren Armreifen sprechen von der Grausamkeit des Grausamen.

1236.       
Es schmerzt mich zu hören, daß du ihn einen Grausamen nennst, nur weil die Armreifen herunterrutschen und die Schultern abnehmen.

1237.       
Mein Herz, gewinnst du Ruhm, wenn du dem Grausamen das Schelten meiner schwindenden Schultern erzählst?

1238.       
Als ich die Arme bei der Umarmung lockerte, wurde die Stirn der Frau mit den goldenen Armreifen fahl.

1239.       
Als eine kühle Brise unsere Umarmung durchwehte, wurden ihre großen kühlen Augen fahl.

1240.       
War es beim Anschauen dessen, was die leuchtende Stirn getan hatte, daß sich die Fahlheit ihrer Augen in Traurigkeit wandelte?

Kapitel 125. Sprechen mit dem Herzen

1241.       
Willst du, mein Herz, nicht nachdenken und mir irgendein Heilmittel nennen, das diese Krankhei heilt?

1242.       
Es ist eine Torheit, daß du leidest, wenn er keinie Liebe hat - sei gesegnet, mein Herz!

1243.       
Warum erinnerst du dich, leidest und denkst an ihn, mein Herz - es gibt keine wohlwollenden Gedanken an ihn, der dieses Leiden verursachte.

1244.       
Nimm auch diese Augen mit dir, mein Herz – sie fressen mich auf in ihrer Begierde, ihn zu sehen.

1245.       
Kann ich ihn aufgeben, weil er mich haßt, mein Herz - ihn, der nicht liebt, obwohl er geliebt wird?

1246.       
Siehst du den Geliebten, der die Freude aus seiner Umarmung nimmt - zeige keinen Zorn, dein Kummer ist falsch, mein Herz!

1247.       
Mein gutes Herz, gib entweder Liebe oder Scheu auf - ich vermag nicht, beide zu ertragen.

1248.       
Mein Herz, du bist ein Tor, du gehst dem Weggegangenen nach - gleichzeitig grämst du dich, daß er dich mit Freundlichkeit erfreute.

1249.       
Ist der Geliebte im Herzen - wen sonst gedenkst du zu finden, mein Herz?

1250.       
Habe ich den in meinem Herzen, der mich abwie ohne sich mit mir zu vereinen, verliere ich selbst die noch verbleibende innere Schönheit.
                                                                                                          
Kapitel 126. Überwinden der Scham

1251.       
Die Axt der Leidenschaft bricht das Tor der Zurückhaltung, das mit dem Riegel der Scham verriegelt ist.

1252.       
O weh, die Leidenschaft - gnadenlos läßt sie mein Herz sogar noch zur Mitternacht arbeiten.

1253.       
Ich möchte meine Liebe verstecken, aber sie kommt gleich dem Niesen heraus - ohne Warnung.

1254.       
Ich denke von mir, ich sei fest, aber meine Liebe bricht aus ihrem Versteck und zeigt sich öffentlich.

1255.       
Nicht hinter dem Gehaßten her zu sein ist denen eine unbekannte Würde, die von der Liebeskrankheit geschlagen sind.

1256.       
Wie gut ist das Wesen meines Kummers, der mich hinter dem her sein läßt, der mich verlassen hat.

1257.       
Ich kenne keine Scham, wenn mein Geliebter aus Leidenschaft tut, was ich begehre.

1258.       
Sind nicht die lockenden Worte des Gauners mit vielen Tücken die, die weibliche Zurückhaltung brechen?

1259.       
Ich war daran, einen Streit mit ihm anzufangen, aber ich umarmte ihn und sah, daß sich mein Herz mit ihm vereinte.

1260.       
Ist es denen möglich, starke Abneigung vorzutäuschen, die ein Herz gleich Fett im Feuer haben?

Kapitel 127. Gemeinsame Schmach

1261.       
Die Augen haben ihren Glanz verloren und sind blaß geworden - die Finger sind abgenutzt vom Markieren der Tage, die er nicht hier war.

1262.       
Frau mit den leuchtenden Juwelen! - Vergäße ich ihn heute, meine Schultern verlören ihre Schönheit und die Armreifen glitten herunter.

1263.       
Ich bleibe zurück und sehne mich nach seiner Rückkehr - er ging und begehrte mit Tapferkeit als Richtschnur den Sieg.

1264.       
Mein Herz erhebt sich in höchster Freude und sehnt sich in Liebe nach der Rückkehr des Getrennten.

1265.       
Zur Befriedigung meiner Augen laß mich meinen Geliebten sehen - habe ich ihn gesehen, verschwindet die Fahlheit von meinen zarten Schultern.

1266.       
Kommt mein Mann eines Tages zurück, will ich mich freuen und all diesen schmerzenden Kummer vernichten.

1267.       
Soll ich schmollen, soll ich umarmen oder beides tun, wenn mein strahlender Geliebter zurückkommt?

1268.       
Möge der König kämpfen und siegen, wenn ich mich nur mit meiner Frau vereinigen und an diesem Abend feiern kann.

1269.       
Ein Tag vergeht wie sieben für eine, die sich nach der Rückkehr ihres Geliebten sehnt.

1270.       
Was soll meine Rückkehr oder meine Nichtrückkehr oder meine Umarmung, wenn sie an einem gebrochenen Herzen stirbt?

Kapitel 128. Zeichen der inneren Gefühle

1271.       
Auch wenn du dich versteckst – deine überfließenden bemalten Augen scheinen etwas zu erzählen.

1272.       
Ausgesprochen groß ist die weibliche Einfachheit derer, die eine die Augen füllende Schönheit und bambusgleiche Schultern hat.

1273.       
Die Schönheit dieser Frau gleicht dem Faden der Edelsteingirlande.

1274.       
Das halb gezeigte Lächeln dieser Frau gleicht dem Duft einer unerblühten Knospe.

1275.       
Die heimliche List von ihr mit den sich drängenden Armreifen ist ein Heilmittel, das meinen großen Kummer beseitigen kann.

1276.       
Die tröstende Umarmung macht mich fähig, den Kummer zu ertragen und sogar seine begehrte Liebe.

1277.       
Die Trennung von ihm mit der kühlen Schau haben die Armreifen sogar vor mir gefühlt.

1278.       
Mein Liebhaber ging gestern - mein Körper ist fahl schon seit sieben Tagen.

1279.       
Sie schaute auf ihre Armreifen, auf ihre zarten Schultern und auf ihre Füße - das waren alle Zeichen, die sie machte.

1280.       
Die Weise, auf die sie ihren Liebesschmerz ausdrückte und mit ihren Augen fragte, zeigte ihre höchste weibliche Scham.

Kapitel 129. Wunsch nach Vereinigung

1281.       
Zufrieden im Geist und erfreut durch den Blick zu sein, liegt nicht im Alkohol, sondern in der Liebe.

1282.       
Man soll nicht schmollen, nicht einmal in der Größe eines Hirsesamens, auch wenn die Liebe größer ist als eine Palmyranuß.

1283.       
Obwohl er mich verachtet und mit mir macht, was er will, zerbrechen meine Augen nicht, wenn sie meinen Mann nicht sehen.

1284.       
Ich ging und wollte schmollen, meine Freundin - aber mein Herz vergaß es, ging und umarmte ihn.

1285.       
Wie man den Griffel beim Schreiben nicht sieht, sehe ich die Fehler nicht, wenn ich meinen Mann sehe.

1286.       
Sehe ich ihn, sehe ich keinen Fehler an ihm – sehe ich ihn nicht, finde ich nur Fehler.

1287.       
Was nützt das Schmollen, wenn man weiß, daß es nichts bringt - gleich denen, die in die Flut springen und doch wissen, daß sie sie wegreißt.

1288.       
Trickreicher, deine Brust ist wie Alkohol denen, die sich seiner erfreuen, obwohl er nur schändliche Dinge einbringt.

1289.       
Liebe ist zarter als eine Blume - es gibt nur wenige, die ihr Wesen in vollendeter Zeit gewinnen.

1290.       
Sie schmollte nur mit ihren Augen - sie umarmte mit einem größeren Begehren als ich.

Kapitel 130. Schelten des Herzens

1291.       
Obwohl du siehst, daß sein Herz bei ihm ist - warum bist du nicht bei mir, mein Herz?

1292.       
Mein Herz, obwohl du siehst, daß er dich nicht liebt, gehst du zu ihm hin und denkst, er sei nicht ärgerlich.

1293.       
Mein Herz, die Ruinierten haben keine Freunde - folgst du ihm deshalb nach deinem eigenen Willen?

1294.       
Mein Herz, wolltest du nicht zuerst schmollen und dich dann freuen - wer fragte dich um Rat?

1295.       
Es fürchtet sich nicht, ihn zu bekommen; bekommt es ihn, fürchtet es Trennung - mein Herz gibt Anlaß zu endlosem Kummer.

1296.       
Mein Herz ist in mir nur, um mich aufzufressen, wenn ich in Einsamkeit an ihn denke.

1297.       
Selbst die Scham habe ich vergessen, gefangen in meinem törichten Herzen, das noch nicht würdig genug ist, ihn zu vergessen.

1298.       
Mein Herz, das sein Herz liebt, denkt nur an seine guten Eigenschaften und daran, wie schädlich es ist, ihn zu verachten.

1299.       
Wer ist schon eine Hilfe in Kummer, wenn das eigene Herz keine ist?

1300.       
Fremden ist es kaum möglich, gut Freund zu werden - mein Herz gleicht einem Fremden.

Kapitel 131. Vorgetäuschte Zurückhaltung

1301.       
Umarme nicht und täusche Abneigung vor – laß für eine Weile den Schmerz sehen, den er leidet.

1302.       
Verdruß vortäuschen ist wie Salz in Portionen - ihn zu verlängern ist gleich seinem Übermaß.

1303.       
Sie nicht zu umarmen, die Abneigung vortäuscht, ist gleich dem Quälen dessen, der bereits in Schmerzen liegt.

1304.       
Sich nicht mit ihr zu versöhnen, die Abneigung vortäuscht, ist gleich dem Abschneiden einer verdorrten Kriechpflanze an ihrer Wurzel.

1305.       
Das Vortäuschen und die Abneigung der Frau mit den blumengleichen Augen ist schön für den guten und wahren Mann.

1306.       
Ohne verlängerte oder kurzlebige Abneigung ist Liebe gleich der zu reifen oder unreifen Frucht.

1307.       
Sogar in einer vorgetäuschten Abneigung besteht ein Kummer - ein Zweifel, ob die Vereinigung bald kommt oder nicht.

1308.       
Was nützt das Grämen, wenn es keinen Geliebten gibt, der den Gram versteht.

1309.       
Wie Wasser nur im Schatten süß ist – Abneigung ist erfreuend nur mit dem Geliebten.

1310.       
Es ist nichts außer einem Begehren des Herzens, Vereinigung zu suchen mit dem, der sie wegen ihrer vorgetäuschten Unlust verließ.

Kapitel 132. Einzelheiten der vorgetäuschten Abneigung

1311.       
Frauen erfreuen sich im allgemeinen mit ihren Augen - bist du nicht keusch, berühre ich deine Brust nicht.

1312.       
Als ich Abneigung vortäuschte, nieste er, weil er wußte, daß ich ihm gute Gesundheit wünschte.

1313.       
Selbst wenn ich eine Blumengirlande trüge, lehnte sie ab - ich hätte sie getragen, um sie einer anderen Frau zu zeigen.

1314.       
Als ich ihr sagte, daß ich sie mehr als alle anderen liebte, stritt sie über die anderen.

1315.       
Als ich ihr sagte, wir trennten uns nicht in dieser Welt, wurden ihre Augen mit Tränen erfüllt.

1316.       
Ich sagte, daß ich an sie gedacht hätte - sie weinte: Ich hätte sie vergessen und täuschte Ärger vor, ohne zu umarmen.

1317.       
Nieste ich, segnete sie mich - aber sofort weinte sie und fragte mich, in Gedanken an wen ich geniest hätte.

1318.       
Als ich mein Niesen unterdrückte, weinte sie und sagte: «Verheimlichst du vor mir, daß andere Frauen an dich denken?»

1319.       
Als ich versuchte, sie zu trösten, erwiderte sie, daß ich mich zu anderen Frauen genauso verhielte.

1320.       
Schaute ich sie an und dachte nur an sie, fragte sie, an wen ich dächte, wenn ich sie anschaute.

Kapitel 133. Freude des Schmollens

1321.       
Obschon er ohne Fehler ist, lohnt es sich zu schmollen, damit er mich bevorzugt.

1322.       
Seine Liebe nimmt zu, auch wenn sie ein wenig zu schwinden scheint wegen der Pein meines Schmollens.

1323.       
Gibt es in der himmlischen Welt eine größere Freude, als Abneigung vorzutäuschen bei dem, dessen Vereinigung gleich der von Erde und Wasser ist?

1324.       
Vorgetäuschte Abneigung soll eine dauernde Umarmung bewirken - es ist eine Waffe, die mein Herz brechen kann.

1325.       
Auch wenn die zarten Schultern der Geliebten untadelig sind, bringt das Weggehen von ihnen Freude.

1326.       
Verdauen, was man aß, ist erfreulicher, als mehr zu essen - Liebe im Schmollen erfreuender als im Umarmen.

1327.       
Jene sind die Sieger, die im Schmollen verloren haben - das sieht man in der Vereinigung.

1328.       
Will ich wieder einmal durch Schmollen erfreuen - die Liebesfreude treibt Schweiß auf die Stirn.

1329.       
Möge doch die leuchtend Juwelengeschmückte mit Abneigung erwidern - die Nacht würde verlängert und die Annäherung vertieft.

1330.       
Schmollen ist erfreuend für die Liebe – eine herzliche Umarmung ist erfreuend fürs Schmollen.

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